Polyamorie – mehr als einen Lieben?
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Neulich sass ich mit einem Kollegen beim Mittagstisch zusammen und er erzählte mir von seinen Beziehungskisten. Mit keiner war er so richtig glücklich geworden und …übrigens mit der letzten habe er auch gerade Schluss gemacht. Er tat mir leid, offenbar war ihm in der Liebe das Glück nicht hold. Doch plötzlich überraschte er mich mit einem Bekenntnis: er sei höchstwahrscheinlich polyamor und für die klassische Zweierliebe nicht geschaffen. Ich war baff, von dieser Polyamorie hatte ich bis dahin nichts gehört, konnte mir aber recht gut vorstellen, was er meinte. Und ehrlich gesagt, erinnerte es mich eher an die Hippi-Bewegung der 60er Jahre und ihre „Freie Liebe“. Ich sah also nicht, was an diesem Thema so neu sein sollte.
Mittlerweile begegnet mir das Thema allerdings regelmässig: Polyamorie ist in aller Munde, jeder redet darüber, einige behaupten es zu leben. Doch was verbirgt sich nun unter dieser etwas komplizierten Bezeichnung? Laut Wikipedia handelt es sich bei Polyamorie schlicht um „Liebesbeziehungen zu mehr als einem Menschen zur gleichen Zeit“. Schön. Was soll das bringen? Ist doch schon die Liebe zu einem Menschen oftmals sehr kompliziert. Welches potentielle Chaos wird dann erst bei dieser Mehrfachliebe heraufbeschworen?
Warum Polyamorie?
Doch offenbar ist diese Polyamorie aus einem Bedürfnis heraus entstanden. Die klassische Zweierbeziehung stösst irgendwann an ihre Grenzen. Nämlich genau dann, wenn die heisse Liebesphase nach einigen Jahren etwas verblasst ist und sich einer oder gar beide Partner nach dem Prickeln der jungen Liebesbeziehung zurücksehnen. Was soll man dann tun? Fremdgehen? Verzichten? Zur Paartherapie gehen?
Viele behaupten gar, dass der Mensch auf Dauer nicht monogam sein kann und wir damit irgendwann zwangsläufig in einen moralischen Zwiespalt geraten. Offenbar ist aus dieser Zwickmühle heraus die Idee der Polyamorie entstanden. Für Polyamoristen ist dabei jedoch klar: es geht hier nicht nur um Sex, sondern ganz klar um –wie der Name schon sagt- Liebe. Ein Polyamorist kann mit mehreren Partnern in einer verbindlichen Liebesbeziehung stehen. Das geht über das rein Körperliche hinaus. Hier trifft man sich nicht nur in der Waagerechten, sondern man pflegt diverse verbindliche Liebesbeziehungen. Und das schliesst sämtliche Aktivitäten einer klassischen Zweierbeziehung mit ein: man verbringt Wochenenden gemeinsam, treibt gemeinsam Sport, hat gemeinsame Hobbies, diskutiert gemeinsam. Und man ist sich dabei sicher, den Idealweg gefunden zu haben, weg von den Problemen, die eine monogame Beziehung nach sich zieht.
Werte
Damit Polyamorie jedoch funktioniert, müssen sich alle Beteiligten an gewisse Werte halten. Nur wenn diese Werte aktiv gelebt werden, verkommt Polyamorie nicht zur Promiskuität. Diese Werte sind beispielsweise Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Respekt, vollständiger Verzicht auf Besitzansprüche auf irgendeinen Partner. Das Wichtigste dabei ist die Verbindlichkeit. Man pflegt feste Beziehungen ähnlich wie in der Monogamie auch, mit dem Unterschied dass mehrere Partner beteiligt sind. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist die Kommunikation der beteiligten Partner untereinander. Hat ein Mann polyamore Beziehungen zu mehreren Frauen, dann ist es wichtig dass diese Frauen voneinander wissen. Hier wird mit offenen Karten gespielt und keine Beziehung vor der anderen verheimlicht. Meist kennen sich die verschiedenen Partner auch untereinander und akzeptieren die Situation wie sie ist. Dabei kommt nun noch ein anderes Ideal der Polyamorie ins Spiel: der vollständige Verzicht auf Besitzansprüche auf eine Person. Dabei werden die anderen Liebesbeziehungen des eigenen Partners als Bereicherung dessen Lebens betrachtet und unter keinen Umständen als Bedrohung der eigenen Beziehung zu ebendieser Person. Dies steht im grossen Widerspruch zur klassischen Monogamen Beziehung.
Stellung in der Gesellschaft
Werfen wir nun einen Blick in unsere Gesellschaft: In der mitteleuropäischen Kultur sind polyamore Ansätze gesellschaftlich wenig akzeptiert. Unterhält ein Mensch Beziehungen zu mehreren Liebespartnern, tut er gut daran, darüber Stillschweigen zu bewahren. Andernfalls läuft er Gefahr, dass sein Ansehen in der Gesellschaft eingeschränkt wird. Im schlimmsten Fall kann das dahin führen, dass er seinen Job verliert, die Wohnung für die er sich beworben hat nicht bekommt und dass sich Freunde und Familie verständnislos von ihm abwenden. Doch auch hier hat in den letzten Jahren ein Wandel innerhalb der Gesellschaft stattgefunden. Zumindest oberflächlich bemüht man sich um Toleranz, was oft auch medienwirksam und meinungsbildend umgesetzt wird. Und gleichwohl gehört die klassische Zweierbeziehung zu den Grundfesten unserer Gesellschaft, nur in ihr ist es möglich, eine Familie zu haben und die eigenen Kinder sicher grosszuziehen. Die Polyamorie hat auf dieses klassische Familienmodell keine passende Antwort und so bleibt nur der Verzicht auf Nachwuchs, wenn man sich konsequent für die polyamore Lebensform entscheidet. So bildet denn auch die Polyamorie innerhalb unserer Gesellschaft nur eine kleine Minderheit und es gibt auch kaum prominente Personen, die sich offen als polyamor bezeichnen. Die wohl bekannteste Prominente dürfte dabei Tilda Swinton sein, die sich sowohl mit ihrem Ehemann als auch mit ihrem Freund in der Öffentlichkeit präsentiert.
Grenzen
Das Modell der polyamoren Liebesbeziehung mag ein Versuch sein, die Probleme der klassischen Zweierbeziehung zu lösen. Dennoch wird die Polyamorie über ihren Minderheitenstatus wohl nie herauskommen und auch niemals restlos gesellschaftlich akzeptiert werden. Auch wenn der Mensch kein konsequent monogames Wesen zu sein scheint, so wird sich diese Lebensform nicht als wirkliche Alternative dazu erweisen. Dies liegt nicht zuletzt am Wesen des Menschen selbst. Das Ideal des „nicht besitzergreifenden Verhaltens“ entspricht nicht dem üblichen Denkmuster eines Liebenden und es stellt sich die Frage, ob dieser Besitzanspruch überhaupt per Vereinbarung ausschaltbar ist. Vielmehr steht zu befürchten dass dieser Besitzanspruch zu den ureigensten Verhaltensmustern des Menschen gehört und latent auch in einer polyamoren Beziehung immer vorhanden sein wird. Dabei besteht dann aber auch immer die Gefahr, dass der Besitzanspruch auf die geliebte Person jederzeit erhoben werden könnte und als klassischer Eifersuchtsfall die polyamore Beziehung zerstören wird. Die Erfahrung zeigt ausserdem, dass sich oftmals alleinstehende Frauen auf Männer in polyamoren Beziehungen einlassen, in der Hoffnung, geliebt zu werden. Und dass diese Frauen irgendwann merken, dass sie sich etwas vorgemacht haben in der Hoffnung, dass aus der ursprünglich polyamoren Beziehung die grosse Liebe werden könnte. Der Wunsch nach einer klassischen romantischen Zweierbeziehung wird in vielen Fällen wieder zutage treten und dann für grosse Enttäuschung sorgen.
So ist es doch eher fraglich, ob die Polyamorie die richtige Antwort auf die Probleme der Monogamie ist. Die Probleme der klassischen Zweierbeziehung –Eifersucht, Besitzanspruch, Verlustangst- können gar so gut auch in einer „Vielliebe“ auftauchen. Darüber hinaus sind in einer polyamoren Beziehung aufgrund der vielfältigen Liebesbeziehungen Stress, Zeitnot und Oberflächlichkeit vorprogrammiert. Dies wiederum dürfte zwangsläufig zu einem alten Problem führen: der klassischen Eifersucht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Polyamorie zunächst den Versuch darstellt, die Probleme der klassischen Zweierbeziehung zu lösen. Wer sich dabei an die Werte der Polyamorie hält und diese bewusst lebt, kann durchaus von einer gelungenen Mehrbeziehung profitieren und dies auch geniessen. Es steht allerdings zu bedenken, dass auch in einer so geführten Beziehung Probleme wie Eifersucht und Besitzanspruchsdenken auftauchen können und dann gelangt man zwangsläufig wieder in eine klassische Beziehungskiste. Ausserdem stellt sich hierbei ernsthaft die Frage, inwieweit der Mensch mit seinem kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund der Einehe überhaupt in der Lage ist, langfristig zufrieden polyamor zu leben. Gerade dann, wenn die vielen Beziehungen sich nicht mehr sinnvoll koordinieren lassen und somit die Gefahr der Oberflächlichkeit besteht.
Wie denkt ihr darüber? Habt ihr Erfahrungen mit Polyamorie? Liebt ihr vielleicht selbst in einer glücklichen Vielliebe und möchtet uns davon berichten? Oder seid ihr skeptisch gegenüber den modernen Ansätzen der Polygamie? Dann lasst uns über dieses Thema diskutieren!
Ich finde das Thema interessant. Manchmal überlege ich eine klassische Liebhaberin zu haben. Für ein paar Stunden im Monat. Der sex steht nicht im Vordergrund, darf aber sein. Ich habe es noch nicht ausprobiert denn wo finden und wen. Eine gute Zweitbeziehung.
Sehr geehrte Damen und Herren,
als jemand, der seit über neun Jahren in einer polyamoren Triade lebt – und zwar in der laut aktuellem Stand der Wissenschaft häufigsten Form: eine Frau mit zwei Männern, wobei die Männer keine sexuelle Beziehung haben, finde ich es grundsätzlich gut, dass Sie über Polyamorie schreiben.
Dass ich mich außerdem öffentlich für die Anerkennung von Mehrfachbeziehungen engagiere, ist ein weiterer Grund, dass ich mich darüber freue und ihren Artikel auf meiner Webseite erwähnt habe.
Allerdings könnte der Artikel noch verbessert werden.
Der größte Mangel des Artikels ist aus meiner Sicht, dass der Autor, wie die meisten Menschen, das Monogamie-Paradigma im Kopf hat.
Damit ist er eindeutig nicht auf dem neuesten Stand der Wisssenschaft.
Da kommen gerade in letzter Zeit diverse Studien heraus, die zeigen, dass die angeblichen Vorteile der Monogamie (eben das Monogamie-Paradigma) wissenschaftlich nicht nachweisbar, und die Klischees über Polyamorie falsch sind.
Die Zeitschrift Scientific American empfiehlt sogar Verhaltensweisen polyamorer Menschen als Vorbild für monogame Menschen.
Nicht zuletzt sieht ein kürzlich erschiener Artikel über die erste interntionale akademische Konferenz zu Polyamorie sie als Modell der Zukunft.
Ich weiß nicht, ob Sie das Posten von Links zulassen, und ich füge deshalb die Titel meiner Artikel, in denen ich in deutscher Sprache die in den USA veröffentlichten Studien zusammenfasse.
Sie finden diese auf meiner Seite Polygamie-ist-gut-fuer-Sie. Meines Wissens bin ich der einzige in Deutschland, der bisher über die oben erwähnten Fakten berichtet hat.
Mit freundlichen Grüßen, Viktor Leberecht
Monogamie ist der Polyamorie und Polygamie nicht überlegen (Studie, Conley et. al., University of Michigan)
Vorstellungen der Öffentlichkeit über Polyamorie erneut durch Wissenschaft als Unsinn entlarvt
Scientific American empfiehlt Verhaltensmuster der Polyamorie als Anregung für Monogamie
Polyamorie – ein Anti-Beziehungs-Mangel Modell für die Zukunft
Danke Viktor für Ihre Anmerkungen als „Insider“. Wir haben den Artikel am 20.02.2013 veröffentlicht, um die Frage aus Ihrem Blog zu beantworten.